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Technologie: Fluch oder Segen für Introvertierte?

Ich habe es ja hier schon häufig thematisiert: Verbale Kommunikation fällt uns Introvertierten nicht ganz so leicht wie anderen Menschen. Wir weichen Small Talk aus, vermeiden Telefonate, werden nur unter bestimmten Voraussetzungen so richtig gesprächig und verlieren meistens Energie, wenn wir unter Menschen sind.

In den letzten Jahrzehnten tauchte jedoch eine Technologie nach der anderen auf, die uns das alles erleichtert: E-Mail, SMS, Facebook, Blogs, Foren, Chat Rooms. Wie gemacht für Introvertierte. Könnte man jedenfalls meinen.

Warum Introvertierte diese Technologien mögen

Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass SMS, E-Mail & Co. vor allem Introvertierten das Leben erleichtern.

1. Zeit zum Nachdenken: Wir denken gern nach, bevor wir sprechen. Gern auch mal länger als die ein bis zwei Sekunden, die in einem Gespräch üblich sind. Digitale Kommunikation hingegen verläuft asynchron. Wir können das Tempo verschleppen und uns viel Zeit lassen. Wir kommunizieren dann, wenn uns danach ist und nicht, wenn uns jemand in den Ohren liegt.

2. Umgekehrte Vorzeichen: In Gesprächen – vor allem in Gruppen – fühlt es sich kaum so an, als hätten wir die Kontrolle. Wir sind in diesen Situationen langsamer und reagieren daher, anstatt zu agieren. Bei schriftlicher Kommunikation drehen sich die Vorzeichen um. Wir haben mehr Zeit, um uns gewählt auszudrücken. Das können wir besser als Extrovertierte.

3. Wir können bedeutendere Dinge sagen: Da wir mehr Zeit haben uns gewählt auszudrücken und alles zu durchdenken, können wir über bedeutendere Dinge reden. In einem schnellen Gespräch ist das kaum möglich. Es kostet immer Überwindung, etwas Persönliches auszusprechen. Manchmal brauche ich stundenlange Gespräche, um langsam aufzutauen. So viel Zeit hat kaum jemand, daher fallen tiefe Gespräche oft unter den Tisch.
Außerdem sieht es ganz so aus, als könnten wir uns schriftlich wärmer ausdrücken. Es muss nicht gleich ein Liebesbrief sein – auch wenn Intros diese sicher sehr gut schreiben können – aber in E-Mails fügen wir eher ein ernst gemeintes Kompliment hinzu als im Gespräch.

4. Es ist leicht, in Kontakt zu bleiben: Über SMS, E-Mail und vor allem Facebook ist es leichter denn je, in Kontakt mit unseren Freunden und Bekannten zu bleiben. Es kostet nicht mehr viel Überwindung, einfach mal „Hallo“ zu sagen.

5. Effiziente Kommunikation: Vor allem kurze Nachrichten sind sehr effizient. Es braucht nicht mehr als ein „OK“, um einen Termin zu bestätigen. Das ist besser, als anzurufen und sich in Small Talk zu verfangen. Außerdem können wir nun auch kommunizieren, wenn unser Energie-Level gering ist und wir eigentlich unsere Ruhe haben wollen. E-Mails und andere Nachrichten kann man schließlich schreiben, während man allein auf dem Sofa liegt.

6. Wir können unser wahres Ich zeigen: Ich wette, hier stimmt mir nahezu jeder Introvertierte sofort zu. Online können wir wir selbst sein. Wir müssen nicht so sehr auf der Hut sein, wie in schnellen und anspruchsvollen sozialen Situationen. Wir sind entspannt und machen unser Ding. Ich habe das selbst schon oft gedacht. Allerdings bin ich bei diesem Argument skeptisch. Dazu später mehr.

7. Austausch zu speziellen Themen: Blogs und Foren eignen sich wunderbar zum tiefen Austausch über spezielle Themen. So wie wir hier über Introversion diskutieren. Wo kann man das „offline“ schon? Es kostet zwar auch im Internet Überwindung, darüber zu schreiben, aber es ist leichter und ich werde mit viel Feedback belohnt.

Einem Introvertierten muss ich aber wohl nicht erklären, welche Vorteile neue Technologien haben. Es macht vieles leichter. Das dürfte bereits jeder für sich herausgefunden haben. Aber vielleicht macht es auch alles zu leicht?

Warum wir es uns nicht zu gemütlich machen sollten

Wir können uns einigeln und unsere eigene kleine Scheinwelt erschaffen. Wir fühlen uns wohl. Aber sobald wir einem nicht sehr vertrauten Menschen gegenüberstehen, telefonieren oder in einer Gruppe bestehen müssen, ist uns wieder unwohl, weil wir uns verletzbar fühlen.

1. Was ist unser wahres Ich? Ich habe es oft gehört und häufig selbst gedacht: Im Internet können wir unser wahres Ich zeigen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn auch in jeder sozialen Situation zeigen wir unser wahres Ich. Zu diesem gehört nun mal, dass wir ein bisschen angespannt, zurückhaltend, abwartend und vieles mehr sind. Das ist Teil unserer Persönlichkeit. Das nicht zu verleugnen, ist ein Schritt in Richtung Akzeptanz der Introversion (und unser selbst).

2. Nicht jeder fühlt sich mit E-Mail wohl: Es ist ja schön, dass wir mit E-Mails gut zurechtkommen und die durchdachtesten Abhandlungen schreiben können. Doch nicht für jeden ist es die bevorzugte Art der Kommunikation.
Wenn ich auf Reisen bin, schreibe ich mit gerade einmal zwei Freunden längere E-Mails. Für alle anderen eignet es sich nicht. Die Kommunikation per E-Mail findet also nicht auf einer gemeinsamen Ebene statt: Zwar sind wir zufrieden damit, aber viele Gesprächspartner nicht.

3. Missverständnisse sind an der Tagesordnung: Ich kann noch so lange darüber nachdenken, wie ich etwas formuliere. Missverständnisse kann ich nicht ausschließen. Sie kommen häufiger vor als in der verbalen Kommunikation. Bei Text fehlen einfach mehrere Ebenen.
Es ist auch leichter, sich in Missverständnisse hineinzusteigern. Ich versuche, das zu vermeiden. Wenn ich mich in einer E-Mail falsch verstanden fühle – und das kommt regelmäßig vor – schlucke ich es herunter und gehe nicht weiter darauf ein. Meistens ist es nicht so wichtig. Sonst würden sich ganze Diskussionen nur um kleine Missverständnisse drehen.

4. Es fehlt die Tiefe: In den meisten Medien fehlt den Diskussionen die Tiefe. Ein tiefer persönlicher Austausch ist bestenfalls über E-Mail möglich. Alles andere taugt dazu nicht. Dabei wollen wir ja bedeutende Gespräche!
Facebook zum Beispiel ist Segen und Fluch. Zwar ist es unglaublich leicht geworden, einiges aus dem Leben von vielen Menschen mitzubekommen. Aber die Beziehungen sind oberflächlich. Das Wort „Freund“ wurde neu definiert oder vielleicht sogar entwertet.

Ich bin auch bei Facebook-Freunden ziemlich wählerisch, müsste es aber noch viel mehr sein. Ich sollte Leuten nicht mehr folgen, die mich einfach nicht interessieren. Und während ich diese Worte schreibe, mache ich genau das. 60 Freundschaften sind beendet und einige mehr aus dem endlosen Strom an Informationen ausgeblendet.

5. Mehr Isolation statt mehr Nähe: Oft fühle ich mich durch Technologie eher stärker von meinen Freunden isoliert als ihnen verbunden. Über die sozialen Medien fehlen die echten Verbindungen. Ich sehe Dinge, die meine Freunde mit 500 anderen Menschen teilen.
Das Chatten habe ich vor mehr als zehn Jahren aufgegeben, weil die Realität am Ende nicht hielt, was der Chat versprach.
Und auch eine persönliche E-Mail stiftet nicht die gleiche Nähe wie ein offenes Gespräch, bei dem ich sofort ein ungefiltertes Feedback erhalte.

6. Beziehungen verändern sich: Vor etwa 15 Jahren bekam ich mein erstes Handy und ging online. Seitdem muss ich nicht mehr telefonieren, weil sich Dinge auch anders lösen lassen. Also mache ich es kaum. Entsprechend habe ich keine Beziehungen, zu denen spontanes Telefonieren gehört. Gibt es einfach nicht. Das macht es mir leicht, aber es ist auch schade.
Auch spontane Besuche gibt es heute – nicht nur bei mir – selten. Es ist so leicht, sich abzustimmen, dass kaum jemand ohne Abstimmung seine Freunde oder Verwandten besucht.

7. Gadgets machen süchtig: Diese ständige Verfügbarkeit von Informationen über meine Freunde macht süchtig. Während ich diesen Artikel schreibe, war ich mindestens zehn Mal bei Facebook. Ich weiß. Das darf so nicht sein. Ich muss mich selbst disziplinieren. Ich muss mich zwingen, mir nicht diese oberflächlichen Informationen zu holen, die mich im Zweifel sowieso herunterziehen.

Mein Fazit

Technologie macht uns das Leben leichter. Aber gleichzeitig besteht die Gefahr der Entfremdung – besonders für uns Introvertierte.

Sozialer Kontakt fällt uns schwerer als anderen. Also versuchen wir, ihn durch etwas Leichteres zu ersetzen. Doch wenn wir das tun, wird es anschließend nur noch schwerer, bedeutende Beziehungen aufzubauen.

Mir ist der persönliche Kontakt sehr wichtig geworden. Wenn ich „Quality Time“ mit meinen Freunden verbringe, bleibt das Handy in jedem Fall in der Tasche.

E-Mail nutze ich zwar gern. Aber wenn ich eine Stunde an einer E-Mail schreibe, würde ich diese Stunde lieber mit dem Empfänger verbringen. Ist das nicht möglich, bleibt E-Mail ein guter Ersatz. Aber er darf nicht zur Dauerlösung werden.

Ja, wir fühlen uns verletzbarer, wenn wir uns nicht verstecken, sondern uns in Situationen begeben, in denen wir uns nicht ganz wohl fühlen. Aber tiefe persönliche Beziehungen brauchen diese Verletzbarkeit. Ohne sie wird es einsam.

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Über den Autor

Mein Name ist Patrick und ich bin introvertiert. Oft habe ich mir gewünscht, extrovertiert zu sein, bis ich meine Veranlagung besser verstanden habe. Mehr über mich und mein Buch Kopfsache.

Comments

  1. Hallo Patrik!

    Ich hasse es auch zu Telefonieren. Seit dem ich ein Tablet besitze ist die nutzung der Telefon-funktion meines Smartphones so sehr zurückgegangen, dass ich mir nun als es vor ein paar monaten kaputt gegangen ist einfach kein neues mehr angeschafft habe. Ich vermisse nichts. Ich habe das mal in einem Blogartikel von mir ( http://der-zyklop.de/blog/informationsjonglage ) damit begründet, dass das Gehirn eben nur eine begrenzte Aufnahmekapazität hat, und ich gerne alles reduziere was geht. Nachdem ich deinen Artikel gelesen habe, muss ich eingestehen, dass das nicht der einzige Grund ist, warum ich das mache.

    Ich lese seit einer Weile deinen Blog und hatte schon einige erhellende Momente. Dank dir fällt mir nun auf, dass ich bei vielen Artikeln, Podcasts und persönlichen Gesprächen über das Verhalten von Menschen die „Introversion/Extroversion“-Perspektive komplett ausser aucht gelassen habe. Ich habe mich bisher einfach nie Intensiv mit dem Thema beschäftigt, auch wenn ich mir ständig Gedanken über Mich und die Gesellschaft mache.

    Vielen Dank also für diesen Blog. Weiter so.

    PS: Wenn du einen Flattr-Button hättest… ich hätte ihn schon mehrfach geklickt 😉

    • Patrick says

      Hi,

      ging mir genauso: Bevor ich mich erstmals intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt habe, hatte ich diese Perspektive gar nicht auf dem Schirm.

      Im Herbst erscheint voraussichtlich ein Buch von mir zu dem Thema. Dann kannst du mich gern unterstützen 😉

  2. Das beschreibt ganz klar mich. Danke für diese Ausführungen.

  3. Hallo Patrick,

    wie schön, dass du jetzt wieder mehr auf diesem Blog schreibst! Ich freue mich jedesmal, wenn ich einen neuen Artikel von dir lesen kann.

    Auch in diesem hier erkenne ich mich in vielem wieder. Ich habe auch oft gedacht, dass ich im Internet mein ‚wahres‘ Ich zeigen kann, ohne gehemmt zu sein. Und dann hatte ich ein ‚Aha‘-Erlebnis: Denn du hast natürlich Recht, dass die andere Seite auch zu mir gehört. Und das zu erkennen und zu akzeptieren, sich mit diesem Teil zu versöhnen, ist ein wichtiger Schritt für mich. Danke Patrick, dass du deine Gedanken hier teilst, denn ich habe durch dich schon einiges gelernt.

    Liebe Grüße aus Saarbrücken,

    Magali

  4. Karl Tovar says

    Ich bin auch der Meinung das die Kommunikation über Social Media viele Vorteile für introvertierte birgt, ich habe aber trotzdem schwirgkeiten mit der Kommunikation. In Chatrooms finde ich es imer noch schwer mich über belangensloses zu unterhalten, da ich fürchte ,dass ich meinen gegenüber langweile. Es ist ähnlich wie die verbale Kommunikation: wenn ich nichts zu sagen habe halte ich lieber die Klappe.
    Das stellt vor allem ein Problem dar in einer Gesellschaft wo Menschen durchgängig damit beschäftigt sind sich über Smartphones zu unterhalten. Ich besitze einfach nich die Kapazität an interesannten Gesprächsthemen. So werde ich schnell aus dem sozialem Leben ausgeschlossen, weil mir einfach ein Kommunikationsmittel fehlt.
    Im Grunde bin ich der Meinung das die Technologie uns sogar schadet und hemmt: Wir sind dank ihr 27 Stunden am Tag sieben Tage die Woche in Sozialen Gruppensituationen welche uns auslaugen und wir und wir verlernen wichtige Mittel der verbalen Kommunikation da wir sie gegen schriftliche ersetzen daduch kommen wir uns dann noch verletzlicher vor wenn wir uns mit anderen unterhalten.
    LG Karl

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