Es folgt ein Gastbeitrag von Jasmin Schindler. Gemeinsam mit Jasmin betreibe ich Healthy Habits. Seit Jahren beschäftigt sie sich privat und bei uns im Blog mit Hochsensibilität – ein Thema, das mit Introversion eng verwandt ist. Kürzlich veröffentlichte sie ihr Buch Gestatten: Hochsensibel
Caroline van Kimmenade ist Linkshänderin. In der Schule hänselten sie die anderen Kinder deshalb, auch weil eine peinliche Schreibhilfe an ihrem Stift klemmte, damit sie ihn besser greifen konnte. Lange Zeit kam sich Caroline unbeholfen und tollpatschig vor, bis jemand sie auf den Gedanken brachte: Es liegt nicht an dir; die Welt ist einfach nicht für Linkshänder gemacht. Immerhin musste sie mit Gegenständen hantieren, die hauptsächlich für Rechtshänder gebaut worden waren. Kein Wunder, dass es manchmal komisch aussah, wenn sie z. B. eine Türklinke runterdrückte. Diese Sichtweise übertrug Caroline schließlich auf ihre Hochsensibilität. Die Welt sei nicht besonders geeignet für sehr sensible Menschen. Dieser Gedanke änderte ihre Perspektive und half ihr sich selbst zu akzeptieren. Sie ging von da an wohlwollender mit sich selbst um. (Quelle)
Beim Lesen dieser Anekdote war ich gerührt und inspiriert zugleich. Ich fand die Analogie treffend und wunderbar plastisch. Es ist deshalb eine der vielen Geschichten von hochsensiblen Personen (highly sensitive persons, HSPs), die ich in meinem Buch „Gestatten: Hochsensibel“ teile.
Hochsensibilität und Introversion sind eng miteinander verwandt, denn Carl Gustav Jungs ursprüngliche Definition von Introversion ging weiter, als gemeinhin bekannt ist. (Siehe die Begriffsklärung bei Geist und Gegenwart.) Zwar gibt es auch extrovertierte Hochsensible, doch mit ca. 70 Prozent gilt die Mehrheit als eher introvertiert. Zu dieser Gruppe würde auch ich mich zählen. Ich habe ein reiches Innenleben, ziehe mich gern zurück, kann Dinge gut durchdenken und mag tiefgründige Gespräche. Dazu kommen meine typisch hochsensiblen Antennen und meine Empathie.
So wie der Alltag für Linkshänder nicht immer einfach ist, hadern auch einige HSPs mit sich und dem Leben. Die chronische Reizüberflutung macht vielen zu schaffen; viel zu laut erscheint die Welt da draußen und schürt das Gefühl inkompatibel zu sein. Einige HSPs würden ihre Veranlagung deshalb gern abstreifen. Es fällt ihnen schwer, zu akzeptieren, dass sie nun einmal hochsensibel sind und sich das nicht abschalten lässt.
Was schwer zu akzeptieren ist
Ihre Geräuschempfindlichkeit belastet viele HSPs. Ich würde beispielsweise am liebsten die Gespräche am Nachbartisch und das Babygeschrei aus der Wohnung nebenan ausblenden können. Ebenso wäre ich gern unempfindlicher auf zwischenmenschlicher Ebene und würde darüber hinwegspüren können, wenn sich zwei Menschen gestritten haben und ich das beim Betreten des Raumes sofort bemerke.
Schwer zu akzeptieren finde ich auch, dass ich auf mein Energielevel Rücksicht nehmen muss. Ein zu vollgepackter Kalender wird mir schnell zu viel. Daher muss ich oftmals Nein sagen und wieder Energie tanken – besonders nach ereignisreichen Tagen, Hochleistungsphasen oder einschneidenden Erlebnissen. Es braucht Zeit, bis mein Stresspegel wieder sinkt.
Dann wäre da noch die für Hochsensible typische Sehnsucht nach Tiefgründigkeit. Sie ist einerseits schön, macht aber andererseits das Leben komplizierter. Ich gehöre zu den Zerdenkern, die die Dinge kaum unbefangen betrachten, hinnehmen oder einfach genießen können. Das finden andere Menschen (und ich) manchmal anstrengend.
Wenn andere Menschen uns HSPs als Sensibelchen bezeichnen, ist das natürlich auch schwer zu akzeptieren. Wer will schon anders sein als die anderen? Ratschläge wie „Sei doch nicht so empfindlich!“ helfen nicht gerade, die eigene Natur im positiven Licht zu sehen. Stattdessen fallen die Nachteile ins Auge. Trotzdem täte uns gut, wenn wir weniger an uns herumdoktern und uns selbst samt unseren Schwächen annehmen könnten. Ein paar Gedanken für mehr Selbstakzeptanz, die ich persönlich nützlich finde, stelle ich dir im Folgenden vor.
Gedanken für mehr Selbstakzeptanz
Es geht anderen auch so.
Auf eine gewisse Art war ich beruhigt, als ich bei einer HSP-Bloggerin las: „Ich hasse, dass ich hochsensibel bin. Ich wünschte, ich wäre normal.“ (Quelle) Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass man nicht allein ist. Dies bezeugen auch die vielen Rückmeldungen, die Patrick und ich auf unsere Beiträge bekommen. Viele Leser sind erleichtert, dass es auch anderen so geht. Beim Thema Hochsensibilität war diese Reaktion besonders auffällig. Manche Hochsensible rätseln schon ihr Leben lang, was mit ihnen nicht stimmt, und finden plötzlich eine Erklärung.
Dies ist ein Fall von pluralistischer Ignoranz – ein Phänomen, das wir aus dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ kennen: Weil niemand die Nacktheit des Kaisers anspricht, glaubt jeder, er wäre der einzige, der sie bemerkt. Wenn wir also mit etwas hadern, geht es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch anderen so. Deshalb war meine Hauptmotivation für mein Buch, Geschichten von HSPs für HSPs zu teilen, denn ich glaube, wir fühlen uns weniger allein und sonderbar, je mehr wir voneinander wissen.
Es braucht nur jemanden, der den ersten Schritt macht. Diesen ersten Schritt machen oft Blogger und Autoren wie Patrick und ich. Wir geben anderen die Möglichkeit, sich wiederzuerkennen. Viele erkennen zudem Freunde oder Familienangehörige wieder und teilen das Wissen mit ihnen. Dies sind kleine Schritte hin zu mehr Wissen und Akzeptanz in der Gesellschaft.
Ich bin okay so, wie ich bin.
Stell dir vor, du hättest diesen Gedanken verinnerlicht und würdest ihn wirklich glauben. Würde er das Leben nicht leichter machen? Mich selbst und viele andere HSPs plagen häufig Selbstzweifel. Wir glauben, dass wir nicht gut genug sind. Dabei lähmt uns diese Ansicht und widerspricht oft der den Tatsachen. Umso bemerkenswerter fand ich die Haltung des ehemaligen Echt-Sängers Kim Frank, die er kürzlich in einem Interview beschrieb: Wenn er auf seine Arbeit nach Jahren zurückblicke, dann mit dem Gedanken, dass das Ergebnis das Beste war, was er zu diesem Zeitpunkt im Rahmen seiner Möglichkeiten leisten konnte. Dies scheint mir ein gesunder Umgang mit sich und seinen Leistungen zu sein. Im Gegensatz dazu bin ich oft peinlich berührt von meinen früheren Artikeln. Dabei waren auch sie das Beste, was damals möglich war.
Ich habe mir vorgenommen, künftig wohlwollender mit mir selbst umgehen – und das nicht nur in Bezug auf meine Arbeit. Ich würde gern meine Eigenarten mehr schätzen und sie so behandeln, wie ich es auch bei einer guten Freundin tun würde.
Es ist ein (Lern-)Prozess.
Sich selbst anzunehmen heißt nicht, dass wir fertig sind und uns nicht mehr weiterentwickeln müssen. Genauso wenig darf Hochsensibilität ein Vorwand für Stillstand sein. Wir sollten stets an uns arbeiten – vor allem an unserer Interpretation und Bewertung der Dinge. Beispielsweise habe ich schon unzählige Bücher darüber gelesen, wie ich gelassener bleiben und mich besser abgrenzen kann. Doch es fällt mir immer noch schwer. Es ist ein Lernprozess, der viel Mühe und Zeit in Anspruch nimmt. Aber die gute Nachricht ist: Wir können uns Dinge erarbeiten. Wir können üben, neue Gedankengänge zu pflegen, und somit positive Trampelpfade in unserem Kopf anlegen (siehe z. B. „You are not your brain“ von Jeffrey M. Schwartz).
Beispielsweise braucht das Mantra „Ich bin okay so, wie ich bin“ viele Wiederholungen, bis es sich verfestigt. Jede Wiederholung ist ein kleiner Schritt, der sich langfristig auszahlt. Schließlich gibt es auch in der Persönlichkeitsentwicklung einen Zinseszinseffekt, wie der US-amerikanische Autor und Unternehmer James Altucher anhand der folgenden Rechnung illustriert: Wer sich jeden Tag um 1 Prozent verbessert, hat nach einem Jahr 3800 Prozent erreicht. (Quelle) Wie wäre es, wenn wir jeden Tag 1 Prozent positiver über uns selbst (und andere) denken?