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Emotion, Stimulation und Regeneration: Wie Introvertierte Videospiele erleben

Es folgt ein Gastbeitrag von Philipp, der die Website Introvert The Game betreibt.


Vor gut anderthalb Jahren las ich meinen ersten Artikel zum Thema Introversion und Extraversion. Heute kann ich mich nicht mehr erinnern welcher es war, aber er eröffnete mir Tür und Tor zu meinem wahren Ich. Mein Leben änderte sich schlagartig, denn endlich wurde mir klar, warum ich mich so anders fühlte. Ich verschlang jedes Buch und jeden Artikel zu dem Thema. Mehr und mehr wurde mir klar, dass da draußen noch viele Menschen wie ich sind. Das Puzzle meines bisherigen Lebens ließ sich endlich zusammensetzten und ergab zum ersten Mal ein stimmiges Bild. Ich begann zu verstehen, wie sich meine Persönlichkeitsausprägung auf die verschiedenen Bereiche meines Lebens ausgewirkt hatte.

Doch was war mit dem Thema Videospiele? Videospiele waren schon immer wichtig für mich. Ein Zufluchtsort, ein Erlebnispark und Treffpunkt mit meinen Freunden. Videospiele begleiteten mich mein Leben lang und sind somit ein wichtiger Teil von mir. Die Art und Weise wie ich Videospiele aussuche, erlebe und wie sie mich inspirieren, muss also von meiner Persönlichkeitseigenschaft beeinflusst sein.

Bereits als Kind spielte ich Videospiele anders als viele meiner Freunde. Ich hatte nie den Drang schneller, stärker oder einfach besser als andere zu sein. Je älter ich wurde, desto mehr Wert legte ich auf Story, Charakterentwicklung, Emotionen, Soundtrack und auf Spiele, die mich berührten. Sich wiederholende Tätigkeiten (grinden) konnte ich kaum ertragen und sie langweilten mich sehr schnell. Mit Fremden via Headset sprechen war ebenso nie mein Ding. Online-Spiele mit Fremden zehrten an meiner Kraft, während alleine oder mit guten Freunden zu spielen ein Erlebnis und Entspannung pur waren.

Viele der oben genannten Gewohnheiten und Vorlieben beim Spielen lassen sich rückblickend vielfach darauf zurückführen, dass ich introvertiert bin. Die Themen Introversion und Videospiele waren also beide wichtig für mich und Teil meiner Persönlichkeit. Doch beeinflusst meine Persönlichkeitsausprägung wie ich Videospiele erlebe? Lasst mich versuchen anhand von typisch introvertierten Eigenschaften ein paar Fragen zu beantworten.

Welche introvertierten Bedürfnisse erfüllen Videospiele? Warum begeistern sie uns?

Introvertierte sind tiefe Denker. Sie leben oft in ihrer eigenen Welt.

Wie die meisten Menschen lieben wir es in andere Welten einzutauchen. Ob Buch, Film oder Netflix-Serienmarathon, unsere reale Welt ist nicht genug. Vielen Introvertierten wird nachgesagt sie lebten in ihrer eigenen Welt und träumten oft vor sich hin. Das liegt daran, dass wir uns gerne inspirieren lassen und unsere Kreativität ausleben möchten. Doch im Gegensatz zum Fernsehen oder Lesen, erlauben uns Videospiele in fantastische Welten einzutauchen und darin eine aktive Rolle zu übernehmen. Wir treffen Entscheidungen, erkunden spannende Welten, unterhalten uns mit toll geschriebenen Charakteren und retten nebenbei das Universum. Immer öfter werden in Spielen bedeutende Themen aufgegriffen. Sie inspirieren uns zum Nachdenken und deshalb werden diese Welten für immer ein Teil von uns sein.

Introvertierte legen viel Wert auf Künste wie Musik, Malerei und Geschichten.

Videospiele sind Kunst. Bisher ist das in der Gesellschaft noch nicht voll anerkannt, aber die unglaubliche künstlerische Arbeit, die in manchen Games steckt, kann sich mit anderen Medien messen. Wir dürfen unglaubliche Landschaften bestaunen, epische Musik erfüllt uns mit Emotion und rührt uns zu Tränen, tolle Geschichten warten darauf von uns gelesen und erlebt zu werden. Wie auch bei Film und Fernsehen muss manchmal etwas tiefer gegraben werden, um die wahren Schätze zu finden. Die jährlichen Auflagen von Fifa und Call of Duty mögen sich zwar großer Beliebtheit erfreuen, doch tolle Spiele wie Persona 5, Okami, die Witcher Triologie, Flower oder Zelda Breath of the Wild sind nur einige Beispiele wunderbarer Kunst. Dieser Faktor hat große Auswirkungen darauf, wie wir Introvertierten ein Spiel erleben und aussuchen sollten.

Introvertierte sind kreativ.

Videospiele fördern unsere Kreativität. Dies bestätigen uns bereits viele Studien. Besonders toll kann dies für introvertierte Kinder sein, welche ihre Kreativität ausleben möchten, ohne dafür beurteilt zu werden. Unsere Kreativität entfaltet sich oft „nur“ in unseren Köpfen, da sich unser Denken nach innen richtet. Videospiele können Kindern wie Erwachsenen ein Umfeld bieten, in dem sie sich so richtig kreativ austoben können. Videospiele bieten dafür ein sicheres wertfreies Umfeld. Jeder kann anschließend für sich selbst entscheiden, ob das Werk seiner Kreativität mit der Welt geteilt werden soll oder nicht. Hier denke ich besonders an Spiele wie Minecraft, Little Big Planet oder Die Sims.

Doch wie wirken sich introvertierte Eigenschaften aus, die eher negativ behaftet sind? Gibt es Spiele oder Genres, die wir vielleicht eher meiden sollten?

Introvertierte mögen keinen Small Talk, reden ungern mit Fremden und drücken sich lieber schriftlich aus.

Diese Eigenschaft wirkt sich selbstredend darauf aus, wie wir Online Multiplayer Spiele erleben. Vor allem jene, die es erfordern via Headset mit anderen zu kommunizieren. Viele introvertierte Videospieler konnten mir bestätigen, dass sie in diesen Fall erst gar nicht ihr Mikrofon aktivieren. Kein Wunder, reden mit Fremden ist einfach nicht unser Ding. Zum einen kostet es viel Kraft, zum anderen wird man in Videospiel-Chats oft Zeuge oder sogar Opfer von verbalen Attacken. Das widerspricht unserem Harmoniebedürfnis, deshalb meide ich persönlich (meistens) solche Spiele. Wenn ich Online-Spiele zocke, dann mit guten Freunden, bei denen ich genau weiß, dass sie meine Art des Spielens teilen oder zumindest aktiv unterstützen. Dann können Online-Spiele auch richtig viel Spaß machen und bieten eine tolle Möglichkeit Zeit mit Freunden zu verbringen.

Introvertierte sind gern allein und werden schnell überstimuliert.

Das kennen wir doch alle. Ein langer Tag im Büro mit Meetings, Small Talk und vielleicht sogar einer Präsentation vor dem gesamten Team (ohje). Die Überstimulation ist perfekt und man möchte nichts wie ab nach Hause. Doch Achtung! Videospiele können auch sehr stark stimulieren und möglicherweise den Zustand verschlimmern! Deswegen hier ein paar Tipps, wie euch Videospiele helfen zu entspannen und die Sache nicht noch schlimmer machen:

  • Spielt lieber alleine. Ihr hattet vermutlich bereits genug Gequatsche für heute. Lieber auch dem besten Kumpel für heute mal absagen. Das hat den Vorteil, dass ihr jederzeit aufhören könnt.
  • Ruhige, langsame Spiele mit entspannter Musik sollten jetzt eure erste Wahl sein.
  • Wählt ein passendes Genre. Trefft ihr eure Entscheidungen im Alltag eher mit Gefühl und Intuition? Dann sucht euch lieber ein schönes Strategiespiel aus, um einen anderen Teil eures Gehirns zu benutzen. Ihr arbeitet vorwiegend mit Logik? Spiele mit emotionalen Geschichten sind jetzt euer Freund! Wichtig ist, dass ihr lernt, mit Spielen den Bereich von euch zu aktivieren, der über den Tag hinweg nicht im Vordergrund stand.

Können Videospiele vielleicht dabei helfen an unseren Schwächen zu arbeiten?

Introvertierte tun sich schwer, schnell Entscheidungen zu treffen

Im Alltag sind wir immer wieder in der Situation schnell wichtige Entscheidungen treffen zu müssen. Sind wir gut darin? Nein. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel nennen wie Videospiele helfen können in solchen Dingen besser zu werden. Ich liebe Spiele aus dem Hause Telltale. Dieser Videospielentwickler fokussiert sich voll und ganz auf Geschichten in Videospielen. Der Spieler gibt seinen Input vor allem in Dialogoptionen und kann somit die Handlung beeinflussen. Ab und zu fordern die Telltale Games aber auch eine schnelle Entscheidung, welche sich besonders stark auf die Handlung auswirken wird. Auf diese Art und Weise gewöhne ich mich mehr und mehr an Situationen, die schnelle Aktionen von mir verlangen. Weitere Vertreter zu dem Thema sind ältere Bioware-Spiele wie die „Mass Effect“-Triologie oder „Dragon Age: Origins“.

Introvertierte fühlen sich schnell überfordert, wenn sie zu viele Aufgaben auf einmal erledigen sollen.

Viele introvertierte Videospieler kennen folgendes Szenario: Ein neues Rollenspiel wird gestartet. Voller Vorfreude auf die epische Geschichte, spannende Kämpfe und die Möglichkeit eine neue Welt zu erkunden starten wir in das Abenteuer. Unserem Held wird seine erste Aufgabe übertragen. Lauf schnell zum Dorf, du wirst gebraucht! Auf halbem Weg dorthin wartet ein Händler auf der Straße und fleht: Ich wurde von Banditen überfallen, sie sind in den Wald geflüchtet, bitte hol mir mein Hab und Gut zurück! Erst mal ins Dorf, das klang dringender. Dort warten wiederum fünf arme Leute, die dringend eure Hilfe brauchen. Ihr versteht sicher, worauf ich hinaus will. Diese Art von Game Design führt bei vielen von uns zur Überforderung bis zu dem Punkt an dem wir das Spiel lieber beiseitelegen, anstatt eine Sache nach der anderen zu erledigen. Solche Spiele können uns auch dabei helfen mit Überforderung umzugehen zu lernen, indem wir uns aktiv dafür entscheiden müssen welche der Aufgaben Priorität hat und welche davon später oder gar nicht erledigt werden müssen.

Wo ist der Wald? Ich sehe nur Bäume

Videospiele können einen starken Einfluss auf unser Leben haben. Sie inspirieren, berühren und stimulieren uns Introvertierte wahrscheinlich stärker als Extravertierte. Videospiele helfen unserer Kreativität Ausdruck zu verleihen, bringen uns mit unseren Freunden zusammen und helfen an unseren Schwächen zu arbeiten. Sie sind Zufluchtsort, wenn wir Energie auftanken wollen. Doch sie sind noch so viel mehr, denn dies alles kratzt erst an der Oberfläche. Es gibt noch so viel zu sagen. Wer mit mir auf die Reise gehen will, um noch mehr darüber herauszufinden, ist herzlich dazu eingeladen meinen Blog zu besuchen. Ich versuche die genannten Themen aufzuarbeiten, ab und an einen Spieletipp zu geben und eine Stimme für uns introvertierte Videospieler zu sein.

Über den Autor

Mein Name ist Patrick und ich bin introvertiert. Oft habe ich mir gewünscht, extrovertiert zu sein, bis ich meine Veranlagung besser verstanden habe. Mehr über mich und mein Buch Kopfsache.

Comments

  1. Christin says

    Ich mag Videospiele, keine Frage.
    Als Einzelkind sowieso und als Introvertierte noch mehr. Ich mag die Herausforderungen (Puzzle/Strategie/Zeitmanagement). Ich mag aber auch die Geschichten und Ästhetik von Rollenspielen und Abenteuern. Ich freue mich schon sehr darauf, wenn Virtuelle Realität salonfähig wird.

    Ich bin mit einem C-64 (Commodore) großgeworden und habe daran mit BASIC programmieren gelernt.
    Mein Partner und ich tüfteln auch mal an eigenen Kreationen. Computerspiele sind komplex und haben viele Aspekte, die unterschiedliche, kreative Lösungen erfordern. Sei es in der Graphikabteilung, bei der Musik und Vertonung, im Schreiben von Dialogen oder einer Story im Gesamten, sowie natürlich dem Programmieren … es hat uns auf allen Ebenen angesprochen.
    Zu zweit kommt man zwar nicht weit, aber das Abschließen eines solchen Projektes ist auch gar nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Der (gemeinsame) Weg ist das Ziel! Stundenlange Zweisamkeit mit hochspezifischen Diskussionen garantiert.