Die Frage ist etwas provokativ, und die Antwort ist eindeutig: Natürlich können Introvertierte erfolgreich sein. Warum auch nicht?
Dennoch wird diese Frage gestellt, denn die Eigenschaften introvertierter Menschen wollen nicht so recht zu einer Gesellschaft passen, die extrovertiertes Verhalten belohnt. Daher liegt auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass Introvertierte nicht das Zeug zum Erfolg haben – oder, dass es ihnen zumindest schwer fällt.
Doch das sehe ich anders. Ich habe schon einmal spekuliert, weshalb Introvertierte überhaupt die Evolution überstehen, wenn ihre Eigenschaften so sehr vom bevorzugten Standard abweichen. Die Antwort ist aus meiner Sicht leicht: Jede Gesellschaft braucht Menschen beider Extreme. Wir haben Fähigkeiten, mit denen wir sehr erfolgreich sein können.
Erfolgreiche Introvertierte
Das ist nicht alles nur Spekulation und Geschwätz. Es gibt eine lange Liste prominenter Persönlichkeiten, die als introvertiert gelten. Sie sind der offensichtlichste Beweis dafür, dass Introvertierte genauso erfolgreich sein können wie Extrovertierte. (Diese Menschen werden immer wieder im Zusammenhang mit Introversion genannt. 100% sicher sein können wir uns natürlich nicht.)
Politik: Zwei der mächtigsten Politiker der Welt sind introvertierte Persönlichkeiten: Angela Merkel und Barack Obama. Sie haben sich auf einer Bühne voller Schreihälse durchgesetzt, weil die Wähler auch ihre Eigenschaften schätzen. Al Gore hingegen hatte es seinerzeit gegen den Cowboy George W. Bush nicht geschafft. Dennoch ist er erfolgreich.
Unterhaltung: Selbst einige der Top-Schauspieler Hollywoods werden zu den Introvertierten gezählt. Darunter Julia Roberts, Steve Martin und Clint Eastwood. Vor der Kamera drehen sie in ihren Rollen auf. Privat hingegen sind sie Leisetreter.
Und nicht zu vergessen: Michael Jackson – einer der größten Entertainer überhaupt – war offensichtlich ein sehr sensibler Mensch.
Sport: Der deutsche Fussball-Nationalspieler Ilkay Gündogan bezeichnete sich in einem Interview selbst als introvertiert. Das prominenteste Beispiel aus dem Kreise der Nationalelf dürfte Sebastian Deisler sein, der auf dem Platz als Genie galt, jedoch an der Öffentlichkeit seines Sports zerbrochen ist.
Schriftsteller: Ohne Introvertierte gäbe es keinen Harry Potter, denn auch J.K. Rowling gehört zu den leisen Vertretern ihrer Zunft. Ich fände es nicht überraschend, wenn die Quote der Introvertierten unter den Schriftstellern besonders hoch ist (darüber habe ich jedoch keine Informationen).
Wirtschaft: Natürlich gibt es auch in der Wirtschaft erfolgreiche Introvertierte, und dort sind ja auch die meisten Menschen beschäftigt. An der Spitze einiger der erfolgreichsten Unternehmen der Welt sitzen introvertierte Menschen, zum Beispiel Tim Cook (Apple), Mark Zuckerberg (Facebook) oder Larry Page (Google). Auch Bill Gates (ehemals Microsoft), Steve Wozniak (ehemals Apple) und einer der reichsten Menschen der Welt – Warren Buffet – sind introvertiert.
Es gibt also in jedem Bereich Vertreter beider Extreme. Das sagt natürlich nichts darüber aus, ob es der eine leichter hat, als der andere. Doch eines wird deutlich: Introvertierte können es überall an die Spitze der Leistungsträger schaffen.
Mein eigener Erfolg
Als Vertreter der Otto-Normal-Menschen würde ich mich selbst als erfolgreich bezeichnen. Nicht jeder Lebensbereich läuft ideal für mich und ich sehe noch viel Potential, aber im Großen und Ganzen läuft es gut.
Dabei bin ich auch ’nur‘ ein normaler introvertierter Mensch. In der Schule und im Studium hatte ich gute – aber nicht sehr gute – Noten, mein Selbstbewusstsein war unterdurchschnittlich, ich war die meiste Zeit meines Lebens schwer übergewichtig, in meinem ersten Job habe ich 1.000 Euro brutto verdient. Beste Voraussetzungen also für ein Leben im Mittelmaß.
Doch neben meinem Job habe ich viel ausprobiert, mich weitergebildet und daraus ist die Selbständigkeit entstanden. Später habe ich eine Agentur gegründet, die 20 Mitarbeiter beschäftigt hat. Mittlerweile fühle ich mich in vielerlei Hinsicht unabhängig. Geld gehört nicht zu meinen Sorgen und ich reise viele Monate im Jahr um die Welt. Meinen größten Erfolg sehe ich darin, heute an Projekten arbeiten zu können, die mir wichtig sind (wie dieser Blog).
Und das funktioniert alles, obwohl ich nicht die besten sozialen Fähigkeiten habe, nicht ‚verkaufen‘ kann, keinen Small Talk mag, mich in Meetings unwohl fühle, eher zu wenig, als zu viel rede und sehr ungern vor Menschen spreche.
Weil ich meine Nische gefunden habe und mich auf meine Stärken konzentriere, anstatt an den Schwächen herumzudoktern. Und das kannst natürlich auch Du.
Tipps auf dem Weg zum Erfolg
Was macht einen erfolgreichen Menschen aus? Nun, darüber werden ganze Bücher geschrieben, und es gibt unzählige Meinungen. Ich möchte nur auf ein paar Aspekte eingehen. Diese gelten nicht nur für Introvertierte, sondern für jeden Menschen.
1. Sei Du selbst.
Das klingt nach einer Plattitüde, was? Aber wenn Du diesen Ratschlag nicht beherzigst, brauchst Du die nächsten Punkte gar nicht erst zu lesen. Es ist schwer, man selbst zu sein. Ich kämpfe damit jeden Tag. Oft ist es der leichtere Weg, mich zu verstellen.
Introvertierte übernehmen häufig extrovertierte Eigenschaften. Damit kommst Du kurzfristig sicherlich gut zurecht und die meisten Menschen kommen so auch durchs Leben. Doch ich bezweifle, dass sie damit erfolgreich sind. Mittelmäßig bestimmt, aber nicht erfolgreich.
Also, erkenne und akzeptiere Deine Veranlagungen. Dann handle danach.
2. Sei Dir Deiner Fähigkeiten bewusst
Die meisten Deiner Stärken und Schwächen werden darauf zurückzuführen sein, wo Du auf der Intro-/Extroskala stehst.
Ich bin davon überzeugt, dass Deine Stärken wichtiger sind als Deine Schwächen. Du kannst Dich Dein ganzes Leben damit beschäftigen, Deine Schwächen auszumerzen. Du kannst in allem besser werden, auch wenn Deine Introversion es schwierig macht. Aber könntest Du in der gleichen Zeit nicht Deine Stärken ausbauen?
Niemand interessiert sich dafür, wenn Du aus einer Schwäche eine mittelmäßige Fähigkeit machst. Erfolg kommt aus den Fähigkeiten, die besonders stark ausgeprägt sind. An denen solltest Du arbeiten.
3. Suche Dir einen Job, der Deinen Fähigkeiten entspricht.
Wenn Du stark introvertiert bist, ist ein Job als Vertriebler sicher nicht das Richtige für Dich. Viele Berufe erfordern, dass Du ständig auf neue Menschen triffst. Bei Introvertierten zehrt das enorm an den Energiereserven. Wie gut kann man tatsächlich in einem Job sein, der gegen die eigene Natur geht? Bestenfalls mittelmäßig.
Überlege Dir deshalb genau, welcher Job zu Deinen Fähigkeiten passt. Es gibt unzählige Jobs, in denen Introvertierte aufblühen können.
Ich habe mich vor einigen Jahren für Online Marketing entschieden. Das war lange Zeit ein idealer Job für mich, da ich von meinem Computer aus richtig viel bewegen konnte. Ich konnte Umsatz generieren, ohne auch nur einem Menschen etwas von Angesicht zu Angesicht verkaufen zu müssen.
Übrigens: Du musst nicht gleich die Branche wechseln. Schon innerhalb eines Unternehmens kann eine Veränderung Wunder bewirken.
4. Begib Dich in Situationen, die zu Dir passen.
Nicht nur im Job, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen solltest Du auf Dein Energieniveau achten. Sag‘ auch mal nein zu Situationen, die Dir nur Energie rauben, wenn alles zu viel wird.
Dein Familienleben kann nur erfolgreich sein, wenn Du Dir Freiräume schaffst. Neue Freundschaften wirst Du wohl nicht auf einer Party finden, sondern eher im Verein. Eine lange Reise wird Dir vielleicht besser gefallen, wenn Du allein reist, anstatt in einer Gruppe.
All das kannst Du gezielt beeinflussen.
5. Gehe offen mit Deinen Eigenschaften um.
Introvertierte, die ’sie selbst sind‘, wie ich es eben empfohlen habe, können auf das Umfeld irritierend wirken. Daher ist es hilfreich, sich ein wenig zu erklären.
Für mich ist der offene Umgang mit meinen Eigenschaften noch neu, doch mein Umfeld reagiert recht positiv. Menschen wissen gerne woran sie sind.
Indem Du erklärst, weshalb Du Freiräume brauchst, Dich in bestimmten Situationen nicht wohl fühlst oder in einem anderen Job besser aufgehoben bist, kannst Du Dein Umfeld zu Deinen Komplizen machen. Deine Familie, Freunde und Kollegen sind ja hilfsbereit und wollen Dir das Leben nicht unnötig schwer machen. Dazu müssen sie aber wissen, wie Du tickst.
Schlussworte
Introvertierte können genauso erfolgreich sein wie extrovertierte Menschen. Wir müssen nur unsere eigenen Mittel und Wege finden, anstatt unsere extrovertierten Vorbilder nachzuahmen.
Es gibt für alles und jeden eine Nische auf dieser Welt. Wenn Du Deine Fähigkeiten richtig einsetzt, wirst Du auch erfolgreich sein.
Forschungen haben ergeben, dass „Ambivertierte“ ideal für den Erfolg im Verkauf geeignet sind. Zig Ziglar, ein bekannter US-Verkaufstrainer, sagte selbst von sich, er sei introvertiert. Er hat aber durch perfektionistische Vorbereitung diesen Zug kompensiert. Mir selbst geht es nicht unähnlich (nur, dass ich keinen nennenswerten Erfolg für mich verbuchen kann): Nach einigen traumatisierenden Erfahrungen im Verkauf habe ich mich auf das Thema Verkaufspsychologie gestürzt. Jetzt bin ich Theoretiker, der nach Gleichgesinnten in meiner Region sucht, um das Gelernte auch einzuüben. Introvertierte, die hier an sich arbeiten wollen, können mich also gerne über meine Website kontaktieren. Ich würde mich auf jeden Fall über einen Austausch freuen!
Im Buch „Good to Great“ von Jim Collins wird in einer über Jahrzehnte laufenden Studie untersucht, welche Erfolgsfaktoren dazu geführt haben, warum sich manche Firmen deutlich besser entwickelt haben als ihre Mitbewerber.
Zur Überraschung der Verfasser selbst war die Persönlichkeitsstruktur des Unternehmers in dieser Zeit von ausschlaggebender Bedeutung.
Es wurde die Begrifflichkeit des Level 5 Leadership verwendet und wenn man die Persönlichkeitsbeschreibungen dieser Manager liest, dann wirkt das z.T. wie eine Kopie der in diesem Blog beschriebenen Eigenschaften für Introversion. Eine fast schizophrene Kombination aus Zurückgezogenheit, Bescheidenheit, Demut, Scheu auf der einen Seite und enormer Willenskraft, hoher Analysefähigkeit, Konsequenz und Zuverlässigkeit auf der anderen Seite (Mehr Plow-Horse als Show-Horse).
Extrovertierte Führungspersönlichkeiten waren durchaus nicht erfolglos, doch sie haben es meist nicht geschafft, nachhaltige Strukturen zu erzeugen. Ihr auf ihre Person bezogener Führungsstil nach dem Prinzip des „Königs mit den 1000 Helferlein“ führte mit ihrem Ausscheiden häufig zum Zusammenbruch.
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Persönlichkeitsstrukturen der amerikanischen Präsidenten analysiert, die recht digital in „erfolgreich“ und „nicht erfolgreich“ kategorisieren werden.
Dies unterstreicht noch mal das von Patrick beschriebene und legt sogar den Schluss nahe, dass ein Mindestmaß an Introversion für viele Berufe insbesondere in Führungspositionen unbedingt erforderlich ist.
Man könnte diese Ausführungen auch noch etwas weiter in die Psychoanalytische Charakterkunde ausweiten, in denen gute Führungspersönlichkeiten auch als eine Kombination aus zwanghaft-depressiven und hysterischen aber kaum narzisstischen Anteilen beschrieben werden. Aber das würde hier sicher zu weit führen.
Danke nochmal für den Blog, Patrick – ist wirklich gut.
Hallo Ralf,
danke für Deinen Kommentar.
„Good to Great“ war eines der ersten Business-Bücher, die ich gelesen habe. Und weil es so gut war, habe ich immer weiter gelesen.
Seine Erkenntnisse Level 5 Leadership fand ich natürlich auch besonders interessant 🙂
Der Beitrag von Ralf wirkt sehr beruhigend.
Häufig finde ich Probleme mit Aufgaben die durch operative Hektik und gedankenlosen Hauruck-Aktivitäten charakterisiert sind. Klar werden schon irgendwelche kleine Ergebnisse erreicht, aber es ist doch wie in der Evolution: Bei vielen Mutationen werden schon welche überleben. Nur dafür hatten wir viele Millionen Jahre Zeit. In einem Arbeitsleben sollte die Effizienz (also: „die Dinge richtig tun“) daher etwas höher sein. Mit einer Spur mehr Weisheit erreichen wir dann auch die Nachhaltigkeit, die unsere Gesellschaft benötigt. Die Energiewende liefert bereits genügend belastbare Beispiele wie man es nicht machen sollte.
Dieser Beitrag unterstreicht einen Vorteil der Introversion. Ich hadere leider nach wie vor mit meiner Introversion und den daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Öffentlichkeit oder im Berufsleben.
Dieser Artikel hilft aber weitere positive Argumente für dieses Persönlichkeitsmerkmal in dem „Mindset“ eines introvertierten zu verankern. Wenn wir etwas RICHTIG machen, dann funktioniert es auch.
Habe zu diesem Thema ein gutes Video auf TED entdeckt:
http://www.ted.com/talks/susan_cain_the_power_of_introverts.html#