Introvertierte Gedanken.Zum Forum

Typisch introvertiert: Der Rückzug

Vor einigen Wochen besuchte ich eine Vernissage im Berliner Hotel de Rome. Die geladenen Gäste drängten sich in einem abgeteilten Bereich, bewunderten die Gemälde, unterhielten sich fröhlich und verzehrten kleine Häppchen. Auch Sekt wurde gereicht. Eine nette Veranstaltung.

Nach einiger Zeit und ein bisschen Small Talk verließ ich die Menge und setzte mich in die menschenleere Lobby des Hotels. Ein wenig ausgelaugt, aber ohne echte Gedanken, einfach so. Nach einem Moment des Innehaltens musste ich über mich selbst schmunzeln und dachte: Typisch introvertiert!

Als Freund des Autors Hermann Hesse fällt mir dazu die erste Strophe seines Gedichts „Kennst Du das auch?“ ein. Die intensivere zweite Strophe gibt es ein anderes Mal:

Kennst du das auch, daß manchesmal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehn mußt?

Der Rückzug ist tatsächlich typisch introvertiert. Gruppen von Menschen zehren an unseren Energiereserven. Wenn es zu viel wird, hilft nur der Rückzug.

Es gibt wohl keine Gruppensituation, aus der ich mich nicht nach kurzer Zeit löse. Es zieht mich jedes Mal wie von selbst fort. Wenn es zu anstrengend wird, suche ich nach der nächsten Gelegenheit, mal kurz auszubüchsen.

  • Beim Networking verzichte ich lieber auf ein paar mittelmäßige Kontakte und gönne mir eine kurze Auszeit zum Durchatmen, bevor ich das nächste Gespräch suche.
  • Bei Hochzeiten bin ich froh, wenn ich in der Location auch ein Hotelzimmer habe. Das war bei den letzten drei Hochzeiten der Fall und viel wert. So hatte ich einen ruhigen Rückzugsort für zwischendurch.
  • Falls Du auf einer Party mal nach einem Introvertierten suchst, schau zuerst auf dem Balkon und auf der Toilette nach. Die Trefferquote dürfte hoch sein.
  • Bei größeren Familientreffen bin ich nie lange am Stück in der Runde. Schon als Kind habe ich vermutlich die Hälfte der Zeit in meinem Zimmer verbracht. Heute habe ich kein Zimmer mehr, mache dafür aber mal einen Spaziergang.
  • An Gruppenreisen nehme ich nur selten teil. Und wenn doch, dann nur mit einem Einzelzimmer für den gelegentlichen Rückzug.

Achtung: Der Rückzug führt zu Irritationen

Die 80% der Menschen, die keinen Rückzug benötigen, kann das plötzliche und wiederholte Verschwinden irritieren. Die Frage „Was ist denn mit dem los?“ höre ich zwar nie direkt, aber sie wird gestellt, vielleicht werden Mutmaßungen in den Raum geworfen und diskutiert.

Das gehört dazu. Ich habe dafür jedenfalls keine Lösung, denn ich kann nicht jedem erklären, dass und weshalb ich mich für ein paar Minuten zurückziehen möchte.

Ich empfehle trotzdem den Rückzug, um die Akkus wieder aufzuladen, anstatt völlig auszulaugen. Ein bisschen Getuschel lässt sich dafür ertragen.

Kennst Du schon unser Forum für Introvertierte?

Über den Autor

Mein Name ist Patrick und ich bin introvertiert. Oft habe ich mir gewünscht, extrovertiert zu sein, bis ich meine Veranlagung besser verstanden habe. Mehr über mich und mein Buch Kopfsache.

Comments

  1. Hallo Patrick,

    vor etwa zwei Wochen bin ich über deinen Blog gestolpert. Eigentlich über 101places und die „Digitalen Nomaden“, weil in der Zeitung meiner Stadt ein Artikel über dich war (den du auch erwähnst hast auf dem anderen Blog). Hier bin ich dann länger hängengeblieben 😉 Deine Artikel sind super spannend und es ist teilweise unglaublich wie sehr ich mich in den Beschreibungen und Erfahrungen deiner Artikel wiederfinde. Mir war schon immer klar, dass ich eher introvertiert als extrovertiert bin (und dies habe ich auch eher als einen „Mangel“ angesehen), aber was das konkret bedeutet und dass so viele Eigenschaften von mir nicht spezifisch und komisch sind sondern andere Menschen ähnlich ticken; das wurde mir erst hier durch deine Artikel klar. Ich dachte immer, dass sei meine sehr „spezielle“ Persönlichkeit und neben Erleichterung fühle ich mich fast ein wenig entpersonalisiert, denn anscheinend habe ich ja nicht als einzige diese „seltsamen“ Eigenschaften und bin kein totaler Exot 😉 Ich dachte z.B. immer, dass ich einfach meine Verwandtschaft nicht mag, wenn ich mich auch schon als Kind wie du häufig auf mein Zimmer zurückgezogen habe oder auch gern Spaziergänge mache, um eine Pause von Feiern zu bekommen seitdem ich älter bin. Ja, ich könnte zig Sachen aus deinem Blog aufzählen, wo ich mindestens schmunzeln oder sogar laut lachen musste, weil ich damit nicht (mehr) allein bin.
    Im Übrigen finde ich es auch sehr spannend, was du so an Tipps schreibst wie man mit bestimmten Dingen umgehen kann. Viele der „Taktiken“ und Tipps, die du gibst, habe ich mir auch schon als Strategien erarbeitet und es ist interessant zu lesen wie andere mit ihren vermeintlichen Schwächen, oder besser, weniger ausgeprägten Fähigkeiten 😉 umgehen und wie man auch lernen kann sich selbst besser zu schätzen und mit seinen Eigenarten umzugehen. Ein großes Danke dafür!

    Viele Grüße
    Anja

    • Hallo Anja,

      ich denke doch, dass du schon noch eine individuelle Persönlichkeit hast 🙂
      Aber es gibt eben auch Persönlichkeitstypen, die sich sehr ähnlich sind. Introversion / Extroversion ist da nur eine Dimension. Wenn du noch deine Ausprägung der anderen Dimensionen kennst (z.B. von der MBTI-Typenlehre), würdest du dich wundern wie gut dich jemand beschreiben kann, ohne dich jemals getroffen zu haben 😉

      Tolle Fotos hast du übrigens in deinem Flickr-Account!

      Viele Grüße,
      Patrick

  2. Hallo Patrick,

    die MBTI-Typenlehre klingt spannend. Hast du einen Buchtipp dazu?
    Ich war übrigens am Wochenende auf einer Party auf der es quasi keine Rückzugsmöglichkeit gab (ich war zwei Tage bei jemandem zu Gast) und es war so anstrengend. Ich musste oft daran denken, was ich hier gelesen habe und hab zumindest Verständnis für mich entwickeln können 😉 Geht dir das auch so, dass du dich dann von so anstrengenden Gruppentreffen erstmal erholen musst? Bei mir ist es meist mit etwas Zeit allein getan, aber diesmal musste ich echt raus ins Grüne und einfach Sport machen, entspannen und nichts tun. Vielleicht werden die Ausprägungen des Introvertiertseins auch schlimmer mit dem Alter 😀

    Danke für das Kompliment!

    Viele Grüße
    Anja

    • Hi Anja,

      ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage: Das geht jedem Introvertierten so 😉
      Zwei Tage ohne Rückzugsmöglichkeit und dazu noch eine Party, finde ich schon extrem.

      Zu MBTI: Dieses Buch kann ich empfehlen: http://www.amazon.de/Type-Talk-Personality-Types-Determine-ebook/dp/B00ATLA9VU/
      Das gibt es aber leider nur auf Englisch und ich sollte noch warnen, dass ich nur die ersten 20% des Buchs so wirklich interessant fand. Später wird es sehr speziell. Das ist sicher spannend, wenn man gerade konkrete Probleme mit Leuten aus dem näheren Umfeld hat. Die habe ich aber zum Glück nicht 😉

  3. Hi Patrick,

    danke für den Buchtipp, du bist ja schnell im Kommentieren bzw. Antworten! Englisch an sich wär kein Problem, aber wenn du sagst, es sind nur ca. 20% interessant möchte ich es ungern extra in der Bücherei bestellen. Vielleicht googele ich mal. Apropos Persönlichkeitstypen, kennst du das http://www.amazon.de/ganz-normale-Wahnsinn-schwierigen-Menschen/dp/3746616875/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1409253300&sr=1-2&keywords=francois+lelord? Ich weiß nicht ob dich das interessiert (hat jetzt auch nicht unbedingt etwas mit dem Thema deines Blogs zu tun), aber ich fand es spannend und interessant zu lesen 🙂

    Viele Grüße
    Anja

    • Na ja, die 20% sind halt sehr interessant 😀

      Danke für den Buchtipp. Hätte ich vor Jahren mal gebrauchen können, momentan zum Glück nicht. Aber ich hab’s mir vorsorglich auf die Leseliste gesetzt 🙂

Hinterlasse Deine Meinung

*