Dies ist ein Gastbeitrag von Christine Winter von Stille-Stärken.de.
Es ist schon seltsam: Ich kenne keinen einzigen ruhigen Menschen, der nicht von sich denkt, er sollte extravertiert sein. Weil extravertierte Menschen mehr Erfolg haben. Weil extravertierte Menschen es im Leben leichter haben. Weil man als Extravertierter alles kriegt, was man sich wünscht. Weil extravertiert normal ist.
Und ich frage mich dann immer: Wie kommt ihr eigentlich darauf?
Was glaubst du?
Im Laufe unseres Lebens sammeln wir alle möglichen Erfahrungen, Informationen, Meinungen – und bilden daraus unsere Überzeugungen über die Welt, die Menschen um uns herum und über uns selbst. Heraus kommen Sätze wie: „Ich bin immer zu ruhig.“ Oder: „Ich habe zu wenige Freunde.“ Oder: „Wenn ich nicht der Mittelpunkt jeder Party bin, halten mich alle für einen Loser.“
Jeder hat solche Sätze. Jeder!
Sie sind uns so vertraut, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Und deswegen kommen wir nicht auf die Idee, sie in Frage zu stellen. Weil ja eh völlig klar ist, dass sie stimmen.
Extravertiert zu sein ist besser!
Wie auch immer dein konkreter Satz zum Thema Extraversion/Introversion lautet – ich unterstelle, dass du der Meinung bist, extravertiert(er) zu sein würde (dir) Vorteile bringen.
Ist ja auch so. Das kann man überall lesen. Und im Fernsehen sieht man es jeden Tag. Im Job sowieso.
Leute, die überall im Mittelpunkt stehen, sich durchs Leben quatschen, abends zum Netzwerken gehen und am nächsten Morgen im Meeting die Kollegen schwindelig reden… – die haben‘s drauf.
Ist das wahr?
Vielleicht hast du ja Lust, dir mal eben die Gedanken zu notieren, die dir jetzt gerade durch den Kopf gehen.
Bleib ruhig einen Moment bei der Frage: Ist das wahr…?
Ist es besser, immer im Mittelpunkt zu stehen? Ist es besser, rund um die Uhr zu netzwerkeln? Ist es besser, viel zu reden?
Was denkst du?
Vielleicht bist du dir nicht mehr hundertprozentig sicher.
Oder du denkst: „Klar ist das wahr. Was soll die Frage???“
Ist es wirklich wahr?
Lass uns trotzdem noch einen Moment dabei bleiben. Ist es wirklich wahr?
Nimm dir ruhig zwei, drei Minuten für die Frage. Und wenn du magst, lass deinen Bauch mit entscheiden.
Ist das, was du über die Vorteile von Extraversion denkst, wirklich wahr? Bist du dir absolut sicher?
Was bewirkt es, wenn du daran glaubst?
Das, was du für wahr hältst, beeinflusst das, was du tust.
Außerdem löst es Emotionen aus.
Wenn du magst, nimm dir nochmal ein paar Minuten, um herauszufinden, was die Überzeugung, dass extravertiert zu sein besser ist, mit dir macht.
Was würde passieren, wenn du es nicht glaubst?
Mal angenommen, die Idee, extravertiert zu sein wäre besser (für dich), ist nicht mehr da. Du hättest sie womöglich überhaupt nie gehabt… Was würdest du dann jetzt denken?
Du kannst jederzeit entscheiden, dass du zu deiner ursprünglichen Überzeugung zurückkehren willst. Aber vielleicht möchtest du noch ein wenig mit dem Gedanken spielen:
Wer wärst du, wenn du nicht glauben würdest, dass Extraversion besser ist?
Glaubenssätze sind wichtig
Im Alltag treffen wir viele Entscheidungen, ohne groß darüber nachzudenken. Wir leben nach unseren Überzeugungen und „fliegen auf Autopilot“. Dadurch sind wir einigermaßen ausgeruht, wenn wir auf eine neue Situation treffen, die unsere volle geistige Leistung erfordert.
Glaubenssätze sind also eine echte Erleichterung – gerade für uns Introvertierte. Auf nützliche Denk-Gewohnheiten zurückzugreifen ist daher sehr sinnvoll.
Gewohnheitsmäßiges Denken wirkt allerdings dann einschränkend, wenn dabei etwas herauskommt, was dich stört, einschränkt, behindert oder belastet. Gut möglich, dass das bei deiner Überzeugung über deine Eigenheiten als Introvertierter der Fall ist. Und dann ist es eine gute Idee, deine Gedanken in ein paar ruhigen Minuten zu hinterfragen:
1. Ist es wahr?
2. Ist es wirklich wahr?
3. Was bewirkt diese Überzeugung?
4. Wer wäre ich, wenn ich diese Überzeugung nicht hätte?
Du entscheidest
Wenn du jetzt zu dem Schluss kommst, dass das alles Unsinn ist und dass deine Glaubenssätze über Intro und Extra für dich absolut richtig sind, dann bleib dabei. Konsequenz und Beständigkeit ist eine Stärke von introvertierten Menschen, um die uns mancher Extravertierte beneidet.
Falls du Lust bekommen hast, dich manchmal mit deinen Denk-Gewohnheiten auseinandersetzen, ist es sehr nützlich, eine Überzeugung zu “disputieren”. Am besten geht das schriftlich – damit du dich nicht im Für und Wider verirrst. Deine Notizen sind eine gute Grundlage für eine neue Meinung – oder für’s Beibehalten der bisherigen…
Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine
Christine Winter
PS: Ich schreibe extrAvertiert und nicht extrOvertiert. Meiner Meinung nach kommt das A dem lateinischen Ursprung des Wortes näher als das O. Falls du das anders siehst: Wie so oft im Leben gibt es mehr als eine richtige Überzeugung.
PPS (von Patrick): Sehe ich auch so. Mir ist allerdings das O lieber, weil es gängiger ist. Beides ist richtig.
Christine Winter bloggt auf Stille-Stärken.de für stille Menschen, die ihre ganz eigenen Stärken für ein zufriedenes Leben nutzen wollen. Als selektive Mutistin konnte sie über 30 Jahre lang nur im vertrauten Umfeld ohne Angst sprechen. 2009 hat sie die letzten Sprechblockaden hinter sich gelassen und hilft nun anderen Menschen bei ihrer persönlichen Entwicklung.
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Hallo Ihr Lieben,
inhaltlich stimme ich dem Beitrag von Christine voll und ganz zu. Ich fände es aber nett, darauf hinzuweisen, dass diese Fragen – die hier sehr gut angewendet sind – von Byron Katie stammen. Ihre Methode nennt sie „The Work“ und ich finde sie in vielen Fällen recht nützlich. Grüße euch herzlich, Elke
Hallo Christine,
danke für das Wort „Netzwerkeln“!
Den Inhalt des Artikels kann ich außerdem voll und ganz unterschreiben!